Aufruf zur Kundgebung am 23.08.2017 im Rahmen der diesjährigen Kampagne in Erinnerung an alle Opfer rechter Gewalt in Leipzig.
Mit unserer diesjährigen Kampagne „Aktiv Gedenken statt schweigend Vergessen!“ wollen wir zum wiederholten Male an alle Opfer rechter Gewalt in Leipzig erinnern. Unsere Kundgebung findet anlässlich des Jahrestages der Ermordung des Wohnungslosen Karl-Heinz T. statt. Unser Blick bleibt an diesem Tag nicht auf Leipzig beschränkt, denn vom 22.-26. August jährt sich gleichsam das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen bereits zum 25. Mal.
Wohnungslose als Todesopfer rechter Gewalt
In den vergangenen Jahren fand unsere Gedenkdemonstration stets mit einem zeitlichen Bezug zur Ermordung von Kamal K. am 24.10.2010 statt. Das Tatmotiv bei diesem Mord: Rassismus. In Leipzig wurden Menschen aber auch aus homosexuellenfeindlichen und sozialdarwinistischen Motiven ermordet, seit 1990 mindestens zehn Menschen. Wie in der Vergangenheit wollen wir mit der gesamten Veranstaltungsreihe all diesen Menschen gedenken. Wir möchten in diesem Jahr besonders darauf eingehen, dass rechte Gewalt nicht alleine auf Rassismus beschränkt werden kann.
Bei keiner Opfergruppe rechter Gewalt wird so selten das politische Tatmotiv festgestellt wie bei Wohnungslosen. Journalist*innen der “Zeit” ermittelten 28 Obdachlose, die zwischen 1989 und 2010 aus kollektivem Hass gegen „Asoziale“ ermordet wurden. Nur sieben wurden offiziell als Opfer rechter Gewalt anerkannt, Karl-Heinz T. nicht. Gleich mehrfach wird er in der Nacht zum 23. August 2008 von dem Neonazi Michael H. in der Leipziger Innenstadt verprügelt. Zwei Wochen später stirbt Karl-Heinz T. an seinen schweren Verletzungen.
In der Tatnacht liegt Karl-Heinz T. schlafend auf einer Parkbank am Schwanenteich hinter der Oper. Der 18-jährige Michael H. und ein Begleiter durchkreuzen den Park. Sie befinden sich auf dem Rückweg von einem Neonaziaufmarsch. Unter dem Motto “Todesstrafe für Kinderschänder” waren im Leipziger Osten hunderte Neonazis aufmarschiert. Michael H. erblickt den schlafenden T. und schreit ihn an, dass er „hier nicht schlafen“ solle. Dann versetzt er ihm einen Faustschlag und springt ihm ins Gesicht. Zusammen mit seinem Begleiter verlässt er den Ort des Geschehens, um eine halbe Stunde später zurückzukehren und abermals auf Karl-Heinz T. einzuprügeln.
In den Morgenstunden entdeckt eine Passantin den schwerverletzten Karl-Heinz T.. Im nahe gelegenen Polizeirevier will sie die Beamt*innen informieren. Auf ihre an der Gegensprechanlage geäußerte Meldung gibt es erstmal keine Reaktion. Sie wird nicht hereingebeten und muss auch ihre Personalien nicht angeben. Erst anderthalb Stunden später sucht die Polizei Karl-Heinz T. am nur 200 Meter entfernten Tatort auf.
Im Krankenhaus werden massive Kopfverletzungen, Prellungen am ganzen Körper, Brüche im Gesicht, eine Halswirbelfraktur und Hirnblutungen festgestellt. Mit mindestens sieben Tritten gegen den Oberkörper und etwa zwanzig Schlägen malträtierte Michael H. sein Opfer, so ein medizinisches Gutachten.
Vor dem Landgericht Leipzig erklärt der Staatsanwalt, Karl-Heinz T. habe nichts getan „außer nachts im Park zu schlafen“. Sein Mörder habe ihn „zum bloßen Objekt degradiert“. Der Vorsitzende Richter Norbert Göbel hält es jedoch nicht für nötig, dem sozialdarwinistischen Tatmotiv nachzugehen, obwohl selbst der Verteidiger des Täters von einem rechten Motiv seines Mandanten ausgeht. Am 27. März 2009 verurteilt das Leipziger Landgericht Michael H. wegen „heimtückischen Mordes“ zu einer Jugendhaftstrafe von acht Jahren und drei Monaten. Sein Begleiter wird nicht strafrechtlich belangt. Die Polizei stuft den Mord nur als „normale Straftat unter Alkoholeinfluss“ ein.
Sozialdarwinismus ist, beruhend auf der Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft, ein Denken, das Menschen nach ökonomischen Nützlichkeitskriterien bewertet. Es teilt in Gewinner*innen und Verlierer*innen ein, schreibt ihnen somit einen gesellschaftlichen Marktwert zu, womit die Abwertung von Menschen einhergeht. Menschen, denen keine Nützlichkeit zugeschrieben wird, werden als unnütz angesehen, gar als unwert. Dieser Mechanismus richtet sich gegen die vermeintlichen Verlierer*innen dieser Verwertungslogik, denen ihre eigene soziale Situation vorgeworfen wird: sie seien im Grunde selber Schuld an ihrer Lage. So wird aus einer realen sozialen Ungleichheit eine Ungleichwertigkeit gemacht.
Mehr als die Hälfte der Besserverdienenden hält Langzeitarbeitslose für „willensschwach, an ihrer Lage selbst schuld und für die Gesellschaft nutzlos“. Das wird dann schnell in politische Forderungen übersetzt. Franz Müntefering, damaliger SPD-Bundesvorsitzender, Vizekanzler und Bundesminister für Arbeit und Soziales sagte im Mai 2006: „Nur wer arbeitet, soll auch essen.“ Durch solche Statements werden sozial Benachteiligte entmenschlicht und abgewertet.
Menschen mit Arbeit und die ökonomische Mittelschicht grenzen sich nach unten ab, sie befürchten einen sozialen Abstieg, der nur durch Arbeit und Leistung abzuwenden scheint. Es ist selbst festzustellen, dass mit niedriger Soziallage das Bedürfnis wächst, sich von Personen am untersten Rand der Sozialhierarchie abzugrenzen, indem ihnen eine negativere Arbeitshaltung zugeschrieben wird als sich selbst.
Dieser verbalen Gewalt folgt dann die körperliche Gewalt. TäterInnen sozialdarwinistisch motivierter Gewalt setzen um, was durch Politik und Medien propagiert und gesellschaftlich akzeptiert ist.
Sozialdarwinismus erfährt einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Wer zur Gemeinschaft vermeintlich nichts beiträgt, wird stigmatisiert, ausgegrenzt und abgewertet, was bis hin zur Tötung führen kann. Der gewalttätige Sozialdarwinismus richtet sich besonders gegen Langzeitarbeitslose, Menschen mit Beeinträchtigung und Wohnungslose. Wohnungslose sind noch einmal besonders gefährdet, weil sie über keinerlei sicheren Rückzugsraum verfügen. Die Folge: Von 1989 bis 2011 wurden nach Informationen des Bundesarbeitskreis Wohnungslosenhilfe 167 wohnungslose Menschen von Tätern außerhalb der Wohnungslosenszene getötet.
Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen (22. – 26. August 1992)
August 1992: 400 Menschen, vor allem aus Rumänien, kampieren vor der überfüllten Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZaSt) im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen, geflohen und auf der Suche nach einem besseren Leben. Die damaligen Umstände wären mit der Beschreibung „unmenschlich“ noch verharmlosend ausgedrückt. „Wenn wir weitere Unterkünfte zur Verfügung stellen, kommen noch mehr Asylsuchende. Das zeigt die Erfahrung“ waren die Worte des damaligen Rostocker Innensenators Peter Magdanz zu dieser Situation. So wurde das rassistische Klima im Stadtteil Lichtenhagen bewusst immer weiter angeheizt.
Nach mehrtägigen Angriffen war es dem Mob gelungen, die Geflüchteten aus dem Viertel zu jagen. Anschließend griffen Neonazis, rechte Jugendliche und „anständige Deutsche“ mit Steinen und Brandsätzen die nahegelegene Wohnunterkunft vietnamesischer DDR-Vertragsarbeiter*innen an – unter dem frenetischen Jubel von rund 4000 Bürger*innen. Die Flüchtenden konnten sich über das Dach aus dem eingeschlossenen und brennenden Haus retten, während der Mob „Deutschland den Deutschen“ und „Wir kriegen euch alle“ skandierte. Nur glücklichen Umständen ist es zu verdanken, dass es an diesen Tagen keine Toten gab. Statt Im Anschluß Hilfe zu erhalten, wurden viele der 115 Vietnames*innen abgeschoben, ebenso die Geflüchteten aus Rumänien.
Wir nehmen diesen 25. Jahrestag zum Anlass, um unsere Solidarität mit den Betroffenen zum Ausdruck zu bringen. Im Rückblick auf das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen zeigt sich dessen anhaltende Aktualität: Vor allem mit Blick auf einen gesamtgesellschaftlichen Rassismus und dessen gewaltvollen Ausdrucksformen – die Schlagworte Heidenau, Bautzen oder Freital seien an dieser Stelle nur exemplarisch genannt. Sie machen diese traurige Aktualität rassistischer Pogrome mehr als deutlich.
Das Gestern im Heute begreifen
Rostock war kein Einzelfall, sondern steht stellvertretend für das rassistisch-nationalistische Gesellschaftsklima der 90er Jahre. Allein 1992 kam es zu fast 2000 Angriffen auf Asylbewerber*innen, viele davon auch auf deren Wohnunterkünfte. Mölln, Solingen, Lübeck und Hoyerswerda sind vielen Menschen in diesem Zusammenhang noch ein Begriff, jedoch sind die meisten dieser Ereignisse aus dem kollektiven Geschichtsbewusstsein verschwunden.
Seit einigen Jahren ist ein Erstarken völkischer Bewegungen – von Pegida über unzählige „Nein zum Heim-Initiativen“ auf der Straße und in den sozialen Medien zu beobachten – sie sind Ausdrucksform des gegenwärtigen rassistischen gesellschaftlichen Klimas. Auch organisierte Neonazistrukturen und sog. neurechte Bewegungen werden sichtbarer, aktionistischer und erhalten öffentliche und mediale Unterstützung. Im Jahr 2016 gab es insgesamt 3800 Übergriffe auf Geflüchtete und deren Unterkünfte.
Die in Leipzig ermordeten Menschen wurden aus homosexuellenfeindlichen, sozialdarwinistischen oder rassistischen Motiven getötet. An anderen Orten mussten Menschen sterben, weil sie jüdischen Glaubens waren, sich antifaschistisch engagierten oder einfach nicht rechts waren. Rechte und rassistische Gewalt ist ein Problem. Viel zu oft wird es kleingeredet oder bestritten!
Doch aktives Wegsehen hilft nur den TäterInnen und all jenen, die ihre Einstellungen teilen. Wir schauen hin, denn die vielen Toten rechter Gewalt verpflichten zu einer Auseinandersetzung mit den Ursachen rechter und rassistischer Gewalt. Der Zustand dieser Gesellschaft, der diese Gewalt möglich macht, gehört auf allen Ebenen bekämpft und abgeschafft!
Es gilt immer noch:
Kein Vergessen – Kein Vergeben.
Für ein aktives Gedenken.