Redebeitrag von „Rassismus tötet!“ auf der Demo am 24.10.2020

Der aus Syrien kommende Asylsuchende Achmed B., 30 Jahre alt, wird am 23. Oktober 1996 von zwei jungen Nazis, Daniel Z. (20) und Norman E. (18), erstochen. Nachdem die Täter stundenlang faschistische und rassistische Parolen grölend durch die Stadt gezogen sind, betreten sie am Abend ein Gemüsegeschäft in der Leipziger Südvorstadt. Zunächst beschimpfen sie die Verkäuferinnen rassistisch und drängen sie an eine Wand. Als Achmed B. seinen Kolleginnen zur Hilfe kommen will, wird er angegriffen. Nachdem es ihm gelingt, die beiden Angreifer aus dem Geschäft herauszubewegen, sticht einer der beiden auf Achmed B. ein.

Der Mord mit rassistischem Hintergrund wird von Vertreter_innen der Stadt zum Teil verharmlost. So behauptet der damalige Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube: „ein rechtsextremes Potenzial ist mir hier nie begegnet“ und Leipzigs „Ausländerbeauftragter“ Stojan Gugutschkow pflichtet ihm bei: „Es hätte auch irgendeinen Deutschen treffen können“. Z. und E. werden wegen „Mordes aus niedrigen Beweggründen“ angeklagt. Etwa ein Jahr später fällen die Richter des Landgerichts Leipzig das Urteil: Daniel Z.wird zu neuneinhalb Jahren Jugendhaft verurteilt, sein Mittäter Norman E. erhält wegen Beihilfe viereinhalb Jahre Gefängnis. Laut Staatsanwaltschaft gebe es „keine Anhaltspunkte für einen fremdenfeindlichen Hintergrund“, stattdessen handle es sich um eine „spontane Tat“.

Erst 15 Jahre nach der Ermordung von Achmed B., wurde die Tat als rassistisch motiviert anerkannt.

Wir möchten einen Redebeitrag einer antirassistischen Demonstration vom 25.10.96 aus Anlaß der Ermordung von Achmed Bachir, der hier gehalten wurde, erneut vorlesen:

Wir demonstrieren heute in Leipzig, um unsere Wut und Trauer über den gemeinen Mord zweier junger normaler deutscher Rassisten an dem 30jährigen syrischen Asylbewerber Achmed Bachir deutlich zu machen. Wo wir jetzt stehen, fand gestern die schreckliche Bluttat statt. Unsere Solidarität und unser Mitgefühl gilt den Angehörigen und Freunden des Ermordeten in Syrien und hier in Leipzig. Unsere Wut und unser Haß gelten den Tätern und allen, die ähnliche Taten begehen oder solche Taten stillschweigend dulden oder sie bejubeln. Unsere Verachtung denen, die immer erst dann entsetzt sind, wenn dabei tatsächlich einmal ein Mensch ums Leben kommt, die aber immer wegsehen, wenn in ihrer eigenen Umgebung Menschen anderer Herkunft bedroht oder diskriminiert werden. Es gibt einen unlösbaren Zusammenhang zwischen dem alltäglichen Rassismus der Stammtische und Morden wie diesem!

Die Tat.

Am Mittwochabend kurz nach Ladenschluß stürmten die zwei deutschen Rassisten Daniel Z. und Norman E. den Gemüseladen „Frupa“. Sie randalierten, warfen Obstkisten um und bedrohten zwei Verkäuferinnen, die sie als „Türkenweiber“ beschimpften. Achmed Bachir ging dazwischen und wollte die Situation deeskalieren. Er und die beiden Rassisten verließen den Laden; kurz darauf stachen sie ihn nieder. Eine halbe Stunde später verstarb Achmed Bachir am Tatort. Die beiden Mörder konnten kurz darauf festgenommen werden. Ladenbesitzer Schahim hatte seinen besten Freund verloren, die Verkäuferinnen erlitten einen schweren Schock. Achmed Bachir war der älteste Sohn einer mittellosen in Damaskus lebenden Familie.

Die Täter.
Seit zwei Tagen ist die lokale Presse voll von diesem Mord. Selten aber ein Wort dazu, daß dies nicht irgendein Mord war, auch wenn ein solcher Mord in Deutschland schon ein ganz normaler Mord ist. Dabei ist der rassistische Hintergrund der Tat nicht zu übersehen. Kein normaler Einkäufer stürmt nach Ladenschluß in ein Geschäft und beschimpft die anwesenden Verkäuferinnen als „Türkenweiber“. Auch gehört es nicht zum Verhalten eines normalen Einkäufers, einen weiteren Anwesenden anschließend mit einem 30 cm langen Messer niederzustechen. Dies sind im Gegenteil Verhaltensweisen eines normalen jungen deutschen Rassisten. Der beiden jungen deutschen Rassisten, die und deren Auftreten in diesem Land schon normal geworden sind.
Seit 1990 ist Rassismus zum Alltag geworden. Zu spüren bekommen ihn nicht die, die plötzliche Betroffenheit äußern, ansonsten aber immer wegsehen. Zu spüren bekommen die ihn, die als Flüchtlinge nach Deutschland kamen, um hier Schutz zu suchen. Sofern sie seit 1993 überhaupt noch in dieses Land hineinkommen, dessen Regierung durch die faktische Abschaffung des Asylrechtes den Druck des immer stärkeren rassistischen Mobs ausnutzte – bestehend aus ganz normalen unorganisierten Deutschen. Die Zeitungen leugnen eine rechtsradikale Organisierung der beiden Täter. Damit mögen sie recht haben. Die beiden jungen deutschen Rassisten sind bestimmt nicht in der verbotenen FAP, der Nationalistischen Front, Wiking-Jugend oder anderen unter Beobachtung staatlicher Behörden stehender neonazistischer Gruppen organisiert. Sie sind organisiert im organisierten Deutschtum, das keine festeren Strukturen braucht als den allgemein verbreiteten rassistischen Normalkonsens in dieser normalen deutschen Bevölkerung, aus der heraus seit 6 Jahren ganz normalerweise solche Taten begangen werden.

Die Situation.
Für Leipzig vermeldet die Polizei, erstaunlich genug, allein im 1. Halbjahr 1996 fünf „Körperverletzungen mit rechtsextremem Hintergrund“. Erstaunlich ist nicht die gemeldete Anzahl solcher Delikte, höchstens, daß sie nach oben korrigiert werden muß – erstaunlich ist aber, daß staatliche Behörden in diesen Fällen einen rechtsextremen Hintergrund als Tatmotiv angeben. Denn normalerweise werden solche Fälle – wie jüngst in Brandenburg – als die Taten „verwirrter Einzeltäter“ präsentiert, die im übrigen lediglich durch etwas zu hohen vorhergegangenen Alkoholkonsum zustandegekommen seien. Auch in diesem Fall streitet die ermittelnde Leipziger Staatsanwaltschaft einen rechtsextremen Hintergrund der Bluttat ab.

Zitat: „Aus irgendeinem ausländerfeindlichen Ausdruck“ könne man nicht auf eine ausländerfeindliche Grundhaltung schließen, so der Sprecher der Staatsanwaltschaft. Sollte ein Gerichtsverfahren überhaupt zustandekommen und nicht im Vorhinein mit der Begründung eingestellt werden, die beiden normalen jungen deutschen Männer hätten nur in Notwehr gegen Achmed Bachir gehandelt – wird es auch in diesem weiteren Falle von explodierendem überall vorhandenen Ausländerhaß nicht um die Klärung der heutigen deutschen Normalität gehen, wird auch dieses weitere Mal nicht die Anklage gegen den ganz normalen alltäglichen Rassismus mit Todesfolgen auf allen Ebenen dieses Staates erhoben werden. Wieder einmal werden zwei deutsche normale Rassisten als Einzeltäter verurteilt werden, wieder einmal wird eine Akte „Erledigte Fälle“ beim „Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Aylbewerber“ geschlossen werden und das war’s dann. Bis zum nächsten Mord, zum nächsten Anschlag, zum nächsten diskriminierenden Ausländersondergesetz mit Todesfolge, bis zum nächsten Gerichtsverfahren gegen Opfer und nicht die Täter eines Nazianschlages.

Spätestens seit 1993 ist das Leben eines Flüchtlinges in diesem Lande nicht mehr viel wert. Geschützt wird nicht er, sondern immer nur die Täter und die verschworene deutsche Volksgemeinschaft, die deckend hinter ihm steht. Seine Tat kommt aus der Mitte der Gesellschaft, ob er nun organisierter Nazi oder „nur“ organisierter Deutscher ist. Das Verfahren, das in Lübeck nicht gegen drei dringend tatverdächtige Nazis aus Grevesmühlen, sondern gegen eines der Opfer, Safwan Eid, geführt wird, spricht ebenso Bände wie die nicht zu überhörende Erleichterung, die durch das deutsche Volk ging, als angeblich nicht ein Deutscher, sondern ein Asylbewerber den bisher schrecklichsten Anschlag auf ein Asylbewerberheim verübt haben sollte. Sollte ein Asylbewerber einen solchen Anschlag überleben, droht ihm meist schon gleich die Abschiebung, der Fall Lübeck zeigt es ganz deutlich. Doch selbst eine harte Bestrafung der Täter, selbst eine in diesem Zusammenhang vom Gericht mitverantwortlich gemachte deutsche Volksgemeinschaft – all dies brächte Achmed Bachir nicht wieder zum Leben. Er starb als ein weiteres der vielen Opfer des alltäglichen mörderischen Rassismus.

Betroffenheit und Mitgefühl, auch als Ausdruck ehrlicher Anteilnahme, kann diese Morde nicht verhindern. Nur entschlossenes Entgegentreten gegen alle Formen des Rassismus, sei es nun die Anmache in der Straßenbahn, sei es die offensichtliche Diskriminierung ausländischer Menschen in öffentlichen Gebäuden wie der Universität Leipzig, seien es spezielle Sondergesetze gegen ausländische Straftäter, seien es die zahlreichen Prozesse gegen die Opfer statt gegen die Täter rassistischer Anschläge, seien es die menschenunwürdigen Bedingungen und Behandlungen, denen Asylbewerber in diesem Lande ausgesetzt sind, seien es die unmöglichen Arbeitsbedingungen, unter denen ausländische Arbeitnehmer hier oft arbeiten müssen.

Es gibt nur eine Entscheidung, nie aber eine Entschuldigung oder gar einen Grund für Rassismus. Es gibt nur eine Entscheidung, nie aber eine Entschuldigung oder gar einen Grund für Morden. Denn Rassismus tötet schon da, wo er noch nicht das Messer gezückt hat, wo er „noch ganz normal“ ist.