“Pogrome verhindern, bevor sie passieren!” – So oder so ähnlich waren Aufrufe und Texte noch vor wenigen Jahren überschrieben. Demonstrationen und Interventionen richteten sich richtigerweise gegen die “aktuelle Welle von rassistischer Hetze, Gewalt und Brandanschlägen” [1]. Diese sollten bekämpft und eingegrenzt, Rassismus als Problem erkannt und benannt werden. Der Anspruch, “Gesellschaft so zu gestalten, dass alle Menschen hier ohne Angst und Ausgrenzung leben können” [2], wurde formuliert.
Dabei wurde Heidenau nur als “weiterer dramatischer Höhepunkt” [1] erkannt, neben Schneeberg, Rackwitz, Wolgast, Freital, Clausnitz, Einsiedel, Dresden, Meißen, Bautzen und vielen weiteren Orten, die in den vergangenen Jahren Schlagzeilen machten. Wurzen reiht sich spätestens seit Mitte Januar diesen Jahres in die Aufzählung ein.
Die Notwendigkeit des antifaschistischen Eingreifens war klar gegeben. Nach wiederholten Übergriffen auf Geflüchtete im Ort riefen lokale Neonazis für das Wochenende vom 19.-21. Januar 2018 zur Bildung eins Mobs auf. Unter der damaligen Informationslage musste dies als Bedrohung für alle im Ort befindlichen Geflüchteten ernstgenommen werden. Die Möglichkeit eines rassistischen Pogroms stand im Raum, gerade vor dem Hintergrund der rassistischen Mobbildung nach Pfingsten 2017 [3].
Letzter Zeitpunkt für Antifaschist*innen also, um gegenzusteuern. Was gemeinhin als “Feuerwehr-Politik” beschrieben wird und das notwendige Einschreiten von Antifaschist*innen in solchen akuten Fällen benennt, galt in Debatten über Jahre hinweg zwar als zu wenig für eine erfolgreiche Antifa-Strategie, aber doch als logisch notwendige Mindestaktion. Dieser Mindeststandard und geteilter Konsens über Streitpunkte in der antifaschistischen Linken hinweg scheint hier im Nachhinein allerdings in Frage gestellt. Wenige Menschen aus der antifaschistischen Szene Leipzigs kamen zur gemeinsamen Anreise.
Die Möglichkeit einer Intervention im Ernstfall war dadurch kaum gegeben. Es muss auf die Dringlichkeit der Situation hingewiesen werden. Wenn es um den konkreten Schutz von Menschen geht, muss unnötigen Überlegungen zu Ausrichtung, Wirkung und Rezeption einer Aktion eine Absage erteilt werden. In einer solchen Situation sollte der Konsens gelten, den Fokus darauf zu richten, was notwendig ist, um Menschen nicht zu Opfern eines rassistischen und nationalistischen Mobs werden zu lassen.
Im Nachhinein gab es keine wirkliche Auseinandersetzung zum Geschehen (zumindest ist uns keine bekannt) oder auch nur Ansprache dieses Versäumnisses von antifaschistischer Seite. Anscheinend vollzog sich in den vergangenen Jahren in mehrerlei Hinsicht ein strategisches Umdenken. Verkürzt ließe sich dies als “Masse statt Kritik” sowie “Nachhaltigkeit statt Intervention” zusammenfassen [4].
Da bisher kein Anstoß unternommen wurde, dieses Versäumnis aufzuklären oder überhaupt als solches zu erkennen, wollen wir die Debatte anstoßen, um in Zukunft mittels Zusammenarbeit innerhalb antifaschistischer Strukturen Betroffene von rechter Gewalt zu bestmöglich unterstützen.
Inhalte überwinden – Masse statt Kritik?
Dabei sind theoretische Analysen und Textdiskussionen aus Plena und Gruppen heraus eine wichtige Basis für einen linken Diskurs. Eine sichtbare und nach außen hin wahrnehmbare Intervention kann nur in den Orten selbst erfolgen. Gerade in Sachsen haben die letzten Jahre bewiesen, dass es eine breite Zivilgesellschaft, die auch unabhängig von antifaschistischen Demonstrationen oder Kundgebungen in den Städten und Dörfern aktiv gegen rassistische Mobilisierungen intervenieren würde, kaum noch gibt. Vor allem ist dabei auch keinesfalls Verlass auf Kommunalverwaltungen oder Polizei.
Ganz im Gegenteil: In vielen Fällen wurde die Polizeipräsenz vor Ort erst dann massiv erhöht, als linker Gegenprotest gegen rechte Aufmärsche zu erwarten war. Infolge rassistischer Übergriffe kommt es nicht selten durch Behörden zu Verharmlosungen oder einer Täter-Opfer-Umkehr. Andernfalls konnte der rassistische Mob in den meisten Fällen weitestgehend ungestört agieren. Dabei können sich die Täter*innen bei Angriffen auf Geflüchtete oder deren Unterkünfte auf (moralische) Unterstützung aus der Bevölkerung berufen.
Ein vehementer Widerspruch blieb fast immer aus, sodass sich Rassist*innen in ihrem Handeln oft bestärkt fühlten. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass dies auch auf die lokale Verbundenheit zwischen den Täter*innen und der zustimmenden oder schweigenden Bevölkerung zurückzuführen ist. Seit jeher werden Antifaschist*innen als das größere Übel angesehen und die selben Argumentationen gegen “die Zecken / die Antifa aus den großen Städten” hervorgebracht. Neu ist dies nicht.
Umso erstaunlicher ist es dann, dass bei antifaschistisch organisierten Aktionen immer häufiger sichtbar wurde, dass Teilnehmer*innen vor Ort gänzlich unvorbereitet und anscheinend recht planlos waren [5]. Das ist schlichtweg gefährlich!
Die Organisator*innen von Demonstrationen oder Kundgebungen können nicht auf alle Eventualitäten vorbereitet sein und tragen auch nicht die Verantwortung für alle Anwesenden. Zu beobachten war eine stärker werdende “Konsument*innenhaltung”: einfach hinfahren, herumstehen bzw. mitlaufen und, falls möglich, zeitig wieder zurück sein. Aber eine Organisation in Bezugsgruppen, ein geschlossenes Auftreten von der Anreise im Zug bis zum Ende der Veranstaltung, das Mitbringen von Transparenten, Achtgeben auf den eigenen Schutz und den der Demonstration, das Anschauen einer Karte der Örtlichkeit im Vorfeld und vielleicht ein Plan B für die Rückreise – diese Vorbereitungen wurden oftmals nicht getroffen. Jene “Konsument*innenhaltung” kann als Folge eines schwindenden Organisierungsgrads von Bezugsgruppen begriffen werden.
Hier bedarf es einer Reflexion der eigenen politischen Praxis, um die Handlungsfähigkeit und Sicherheit – gerade in provinziellen Gegenden – nicht zu gefährden. Die Neonazis kennen ihre Städte und Dörfer, kommen aus der Region und können gerade in Sachsen meist unbehelligt von der Öffentlichkeit, aber auch von der Polizei, agieren. Sichere Plätze und Rückzugsräume für Antifaschist*innen gibt es de facto nicht. Deswegen ist die Solidarität und gegenseitige Unterstützung aller anwesenden Antifaschist*innen sowie eine intensive Vor- und Nachbereitung unerlässlich. Wir alle können voneinander lernen, Tipps und Tricks weitergeben, uns vernetzen.
So ist es zwar erfreulich, wenn viele Menschen den Weg in einen der besagten Orte finden, aber wenn der Großteil davon dann gar nicht so richtig weiß, was dort zu erwarten ist, können Angst und Verunsicherungen die Folge sein. Das Agieren aller vor Ort wird schwieriger. Dies wiederum kann Menschen abschrecken, überhaupt (wieder) an derartigen Veranstaltungen teilzunehmen. Diese Negativ-Spirale führt dazu, dass beispielsweise in Wurzen bei einer antifaschistischen Kundgebung infolge mehrerer rassistischer Angriffe gerade einmal 250 Menschen zusammenkommen.
Ja, derartige Interventionen sind mit einem Risiko verbunden. Ja, es ist unbequem, stundenlang in der Kälte zu stehen. Ja, es besteht die Gefahr, in körperliche Auseinandersetzungen mit Neonazis zu geraten. Aber was sind die Alternativen? Die Neonazis einfach gewähren lassen und darauf hoffen, dass beim nächsten Mal nichts Schlimmeres passiert? Wohl kaum. Wenn die Stimmung im Ort schon am Kochen ist und sich rassistische Angriffe aneinanderreihen, wird eine antirassistische oder antifaschistische Aktion niemals auf Akzeptanz oder Wohlwollen stoßen. Sie wird als weiterer Einfluss von außen auf die angeblich bedrohte Stadtgesellschaft wahrgenommen.
Eine Intervention unter diesen Bedingungen kann nur eine unversöhnliche sein. Wir sehen keinen Grund darin, diese Zustände hinzunehmen, wenn angeblich Nicht-Rechte lieber schweigen und zu Hause bleiben. Wir fahren trotzdem mit einigen hundert Menschen in diese Orte. Wir setzen eben nicht auf die Massenmobilisierung, sondern auf jene, die es mit ihrem Antifaschismus und Antirassismus ernst meinen und sich dabei eben auch dem Zorn des rechten Mobs aussetzen.
“Widersprüche öffentlich machen, wo es niemand macht” – Intervention und Nachhaltigkeit
Unversöhnlichen Interventionen wie in Wurzen wird regelmäßig fehlende Nachhaltigkeit vorgeworfen. Dass diesem Konzept ein autoritärer und ambivalenter Charakter innewohnt, hat das bundesweite Bündnis “Irgendwo in Deutschland” im Oktober 2017 in einem Debattenbeitrag ausführlich thematisiert [6]. Dass Interventionen, heute wie gestern, dennoch notwendig sind, haben die jüngsten Gewaltausbrüche gegen Geflüchtete sowie die rassistische Mobilmachung in Wurzen in den vergangenen Monaten einmal mehr gezeigt.
Es ist richtig: Die unversöhnliche Intervention kann keine nachhaltige lokale Vorarbeit leisten, sie ist “Feuerwehrpolitik” und hat scheinbar in erster Instanz keinen pädagogischen Auftrag an die ansässige Bevölkerung. Natürlich gilt es, lokale antifaschistische und zivilgesellschaftliche Akteur*innen – sofern vorhanden – mit einzubeziehen und bestmöglich in ihren Kämpfen zu unterstützen. Doch darf dabei nicht vergessen werden: Es ist kein Zufall, dass sich organisierte Neonazis in Orten wie Wurzen wie die sprichwörtlichen Fische im Wasser fühlen, als selbstverständlicher Teil der Stadtgesellschaft wahrgenommen werden und frei wirken können.
In Orten, in denen der virulente Rassismus den ideologischen Kitt zwischen militanten Neonazis und schweigender bis zustimmender Mehrheitsgesellschaft bildet und in denen als nicht-deutsch Markierte, Antifaschist*innen und Andersdenkende nichts zu lachen haben, findet sich oftmals schlicht kein handlungsfähiges zivilgesellschaftliches Korrektiv, mit dem es Bündnisse zu schmieden gäbe.
Die Frage, wie eine kontinuierliche Unterstützung aus den Städten in die aufgegebene Provinz aussehen könnte, treibt leider nur noch wenige Antifaschist*innen um. Fehlende Ansprechpartner*innen vor Ort, mangelnder Rückhalt aus der Bevölkerung sowie das Nichtstattfinden von Aktionen festigen die Komfortzonen von Neonazis, bestätigen die Stillhalte-Taktik der Stadt und lassen nicht zuletzt die (potenziellen) Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt allein zurück.
Diese Orte sich selbst zu überlassen, anstatt den Rassist*innen, Neonazis und Imagepfleger*innen den Spiegel vorzuhalten und sie öffentlich zu demaskieren, gleicht einer Kapitulation vor den (sächsischen) Verhältnissen. Was bleibt ist die Frage, wann eine politische Aktion als “nachhaltig erfolgreich” zu bewerten ist. Gerade angesichts einer antifaschistischen Szene, die bis heute fast ausschließlich eine Jugendbewegung ist und die immer wieder daran scheitert, dass gerade im ländlichen Raum junge Linke früher oder später in die Metropolen gehen.
Wie kann daher ein Zustand hergestellt und aufrecht erhalten werden, der langfristige und nachhaltige antifaschistische und linke Politik in der Fläche ermöglicht? Wie kann eine rechte Hegemonie gestoppt und zurückgedrängt werden?
Es fehlt unserer Einschätzung nach an Konzepten sowie Strategien eines Land-Stadt-Austausches, um nicht zu Hunderten wie ein Ufo aus den Großstädten in der Provinz zu landen. Solange diese Strategien nicht diskutiert und entsprechende Strukturen nicht etabliert sind und keine nachhaltige Einbindung älter-werdender Genoss*innen (vor Ort) vorhanden ist, bedarf es Interventionen von organisierten Menschen, um in akuten Situationen Betroffene rechter Gewalt zu schützen und sich in großer Zahl solidarisch an ihre Seite zu stellen.
Wo sind all die Antifaschist*innen hin?
“Am besten jeden Tag dem rassistischen Normalzustand entgegenstellen – in Orten wie Wurzen, Cottbus oder Plauen” [7] – dieser Forderung können wir uns nur anschließen. Und dennoch scheint in Leipzig und Sachsen genau diese Notwendigkeit nicht als solche erkannt zu werden. Viele Genoss*innen sprechen sich zwar nicht grundsätzlich gegen ein Agieren in ländlichen Räumen aus, aber per se gegen die konkreten Aktionsformen, die als “Selbstbespaßung oder Gewissensberuhigung” ohne “langfristigen strategischen Nutzen” angesehen werden [8].
Dabei erachten wir unversöhnliche Interventionen in Situationen, wo nachhaltige Strategien nicht vorhanden sind oder wirken, auf keinen Fall als Spaß, nicht für uns, nicht für irgendwen. Nur warum hat die Losung “Pogrome verhindern, bevor sie passieren!” für Antifaschist*innen keine sonderliche Relevanz mehr? Weil scheinbar kein langfristig strategischer Nutzen besteht? Warum haben strategische Kalküle Priorität gegenüber der Solidarität und dem operativen Schutz anderer? Diese Fragen sind keine rhetorischen!
Wir stellen sie, da wir sie nicht beantworten können, aber gerne einen Austausch über die Notwendigkeit und die Bedingungen für Interventionen anstoßen würden. Interventionen erachten wir – leider – als notwendig und quasi unumgänglich.
Wir sehen die Notwendigkeit, in ländlichen Regionen zu intervenieren, um Betroffene zu schützen und zu unterstützen. Wir glauben nicht, dass dadurch Neonazis und Rassist*innen nachhaltig ihr Bedrohungspotenzial genommen wird. Unversöhnliche Interventionen sind Ausdruck der Notwendigkeit antifaschistischen Handelns, wenn außerhalb unserer Kieze Menschen konkret gefährdet sind. Sie sollen sich mit Betroffenen von rechten Übergriffen solidarisieren oder zumindest den Fokus von ihnen nehmen. Sie sollen im Weiteren aber auch das Kennenlernen potenzieller Bündnispartner*innen ermöglichen, wie es gerade die antifaschistische Demonstration seinerzeit in Rackwitz tat [9].
Wir laden hiermit alle antifaschistischen Gruppen ein, in die Debatte mit uns einzusteigen und gemeinsam Antworten zu finden.
“Rassismus tötet!” – Leipzig
2 http://rackwitz.blogsport.eu/beispiel-seite/
3 https://raa-sachsen.de/chronik-details/wurzen-3776.html
8 http://blog.interventionistische-linke.org/bundestagswahl-2017/was-tun-in-sachsen