Redebeitrag vom 24.10.2015: “Flucht & Vertreibung” – Plakat am Neuen Rathaus in Leipzig

“Flucht & Vertreibung” – Plakat am Rathaus in Leipzig

Seit dem 8. Oktober hängt – bisher recht unbeachtet, da auch unauffällig – ein Fotobanner an der Fassade des Neuen Rathauses, dessen Thematisierung überflüssig scheint, da es wohl eh kaum wahrgenommen wird. Und dennoch erachten wir eine Auseinandersetzung als überfällig, eine Intervention als notwendig. Beim Betrachten der beiden, nebeneinander positionierten Bilder, sind Menschen im Bildzentrum, um sie herum zerstörte Gebäude erkennbar. Die Bilder sollen somit vergleichbar werden, gar gleiches darstellen. Und doch ist genau das Gegenteil der Fall. Das linke Bild zeigt Danzig im Jahre 1945, das rechte Kobanê 2015. In einer Pressemitteilung des Leipziger Oberbürgermeisters Burkhard Jung heißt es dazu: “Die Motive aus Danzig und Kobane zeigen bedrückende Ähnlichkeit. Das Banner dokumentiert, was Flucht bedeutet: Not, Ausweglosigkeit, Heimatlosigkeit – unabhängig von Jahrhunderten und Kontinenten.” Die Stadt Leipzig wählt somit einen moralisierenden Weg, um das Herz der deutschen Rassist_innen für Geflüchtete zu erweichen. So behauptet Jung, dass “unsere… Eltern und Großeltern am eigenen Leib erfahren mussten, was es heißt, die Heimat zu verlieren. So gut wie jede deutsche Familie hat auch Fluchterfahrung.” Diesen Weg beschritten vor Jung bereits einige, so am 20. Juni, dem Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung, auch der Bundespräsident Joachim Gauck.

Was seither geschah ist bekannt: Täglich greifen Deutsche Geflüchtete und ihre Unterkünfte an, verüben Brandanschläge und Gewalttaten, mobilisieren zu Aufmärschen und versuchen alles, um Asylsuchende nicht willkommen zu heißen. Banner und Reden werden also nicht dazu beitragen, für Ursachen und Gründe von Flucht und Migration zu sensibilisieren, noch weniger werden sie Rassist_innen von ihrem Rassismus abbringen. Was das Banner am Neuen Rathaus sowie Gaucks Rede jedoch schaffen, ist eine Umdeutung von Geschichte. Danzig 1945 und Kobanê 2015 werden durch den ausschließlichen Fokus auf Flucht zu etwas Gleichem gemacht, ohne jedoch Ursachen und Gründe für die jeweilige Fluchtbewegung zu benennen. Diese emotionalisierende Gleichsetzung bringt Menschen, die wegen einer Notlage aus ihrem Herkunftsland fliehen müssen, mit einem Personenkreis in Verbindung, der zumindest vor 1945 mehrheitlich die NS-Politik begeistert unterstützte. Deutsche Zuschauer_innen, Profiteur_innen durch Arisierung und Täter/innen werden somit ihrer Verantwortung und bewussten Entscheidung, sich nicht gegen den Nationalsozialismus zu stellen, sondern ihn mitzutragen und zu befördern, enthoben. Sie werden zu Opfern gemacht, Opfern der so genannten “Flucht und Vertreibung der Deutschen”.

Im deutschen Sprachraum scheint ein Wissen um die Bezeichnung Flucht und Vertreibung zu bestehen. Der Terminus wird als Sammelbegriff für die angebliche Zwangsmigration der Deutschen im Zuge des Zweiten Weltkrieges verwendet. Gegenstand und Betroffene zugleich sind „die Deutschen“, die von Flucht und Vertreibung betroffen gewesen seien. Weiterhin lässt die Bezeichnung den vermeintlichen Zeitpunkt von Flucht und Vertreibung der Deutschen mit dem Vormarsch der sowjetischen Armee – und damit 1944/45 – beginnen. Jedoch bröckelt diese Erzählung, wenn der Zusammenhang zwischen NS-Bevölkerungspolitik, dem Zweiten Weltkrieg und der so genannten Vertreibung als eine ursächliche Beziehung betrachtet wird. Demnach sind die Ursachen nicht am Ende, sondern zu Beginn des Zweiten Weltkrieges sowie der Bevölkerungspolitik der Nazis zu suchen.

Jenes wird aber durch das Erzählen über die bloße Fluchterfahrung und die vermeintlichen Anstrengungen und Erfolge der Deutschen im Umgang mit so genannten Geflohenen oder Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelassen. Es ist eine Erzählung, die meint, dass eben nicht ein Großteil deutsche Bevölkerung am Nationalsozialismus willig partizipierte, sondern eine NS-Elite den Staat führte und die Bevölkerung, die von nichts gewusst haben will, unterjochte. Das Banner ist entsprechend ein Mittel, diese Perspektive weiter zu befördern, eine Diskursverschiebung vorzunehmen.

Solchen visuellen Mitteln zur Durchsetzung der Opfer-Täter-Umkehr darf kein Raum geboten werden. Daher sollte, sofern die Unterstützung Geflüchteter seitens der Stadt ernst gemeint ist, zukünftig das Geld an Asylsuchende und nicht in Banner gehen. Und jenes sollte schnellstmöglich entfernt und sinnvoller genutzt werden: So beispielsweise als Jute-Beutel. Mögliche Einnahmen können Projekten gegen Rassismus zu Gute kommen.

Und zu guter Letzt: Die Deutschen haben letztlich die Parole “Heim ins Reich” verwirklicht, nur etwas anders als gedacht.